Weilten große Literaten wie Charles Baudelaire, E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe noch unter den Lebenden, wäre es ihnen eine reine Freude, Otto Dix dabei zu begutachten, wie sie es mit ihren Veröffentlichungen sowohl musikalisch als auch lyrisch in regelmäßigen Zeitabständen immer wieder anstellen, die Epoche der Schwarzen Romantik neu aufleben zu lassen. Mit dem inzwischen fünften Album 'Чудные дни' arbeiten sich Otto Dix durch mehr und mehr gotische Gehörgänge und bleiben dank ihres ohne Frage erinnerungswürdigen Stils dort hängen, die Hörer in düsteren Enthusiasmus und deren Hautsensorik ins Schaudern versetzend. Einige Monate nach der Ur-Veröffentlichung in der russischen Heimat erscheint das Werk nun auch hierzulande unter dem ins Englische übersetzten Titel 'Wonderful Days'. Die Russen haben sich gegenüber den Vorgängeralben deutlich klangverbreitert und merklich an Geschwindigkeit zugelegt. Das trifft zwar nicht für alle Stücke und ausnahmslos zu, jedoch dürfte dem Dix-bewanderten Hörer schon beim brachialen Einstiegstrack 'Those Who Come After' (Те, кто будут после) aufleuchten, dass es sich bei der aktuellen Platte nicht um eine Neuauflage der vergleichsweise geordneten, majestätisch getragenen Erstalben 'Эго' und 'Атомная Зима' handeln kann. Dafür will der synthetische Beat viel zu sehr mit dem Kopf durch die Wand, und auch der Gesang Michael Draws läuft sich noch bedrohlich monoton in gemäßigter Höhe warm. Nich mehr lange, und das Kind wird mit 'Speed' (Скорость), dem bisher wohl temporeichsten Stück der Bandkarriere, beim Namen genannt. Dort tobt sich übrigens auch Peter Voronov ausgiebig an der E-Violine aus. Die angedeutete Wandlung zum Brechstangen-Darkwave (Rein zufällig ist auch ein Track namens 'Iron Rod' (Железный прут) auf der Platte zu finden) ist gar nicht mal unattraktiv und weiß auch ohne die teils wie im Wahn, teils wie in Trance gespielten Piano-Hooks aus früheren Zeiten durchaus mitzureißen. Wirkten die Loops und Klänge der damaligen Alben noch wie Musik aus einer anderen Galaxie, haben Otto Dix bis heute erkennbar an Distanz zum zeitgeistlichen Status Quo der Musikindustrie gutgemacht. Vielleicht aber ist es auch einfach die Gewöhnung. Wie auch immer - von einer Verschlechterung mag man ob der gleichgebliebenen Qualität dieser wohltuend andersartigen Art, Musik zu machen, jedenfalls bei 'Wonderful Days' nicht sprechen. Vor allem anderen ist - was man angesichts der eben beschriebenen Stücke nicht vermuten mag - Otto Dix auch das Talent erhalten geblieben, Szenen der Verzweiflung und des Schreckens schockierend unverblümt mit einem Gesang zu umreißen, der einerseits gnadenlos und zielgerichtet wie ein Skalpell, andererseits mit bemerkenswerter Unaufgeregtheit und eisiger Behutsamkeit zu Werke geht. Dieses ganze Spektakel vollzieht sich im lupenreinen, opernreifen Countertenor Michael Draws, der, wie beispielsweise in 'Glass Flowers' (Стеклянные цветы) auf den durch Violine und Synthesizer geschlagenen Wogen entlanggleitet, als wäre er über jeden Schmerz erhaben. Selten hat sich das Zerbrechen von Herz und Seele so verführerisch angehört. Ebenso selten wurde je ein Märchen so kaltblütig rezitiert wie in 'Little Prince' (Маленький Принц) oder so entwaffnend die allumfassende, verletzliche Nacktheit einer menschlichen Seele dokumentiert wie in 'Stripped' (Раздетые), einem Stück mit gewaltigem Kehrvers und saugendem Synth-Bass. Nein, an Schärfe haben Otto Dix definitiv nicht verloren, auch wenn die beinahe poppige erste Single, 'Beast' (Зверь), die eher wirkt wie eine BDSM-Latex-Fetisch-Hymne, die Schattenfestung 'Wonderful Days' über einen kurzen Zeitraum ein wenig ins Beben bringt. Darüber hinaus bekunden die Musiker nach 'Orpheus' (Орфей) vom Vorgängeralbum 'Zone Of Shadows' (Зона Теней) mit 'Icarus' (Икар) nachdrücklich ihr Faible für die Sagen der griechischen Antike. Gekonnt verleihen sie den mythologischen Eckpunkten ein gewisses Maß an Obskurität und tauchen so den altbekannten Schmökerstoff in ein verlockendes und Interesse weckendes Halbdunkel. Dass Otto Dix auch 2011 mit 'Wonderful Days' ein Album aus dem Hut zaubern würden, dem nicht so einfach mal eben das Wasser gereicht werden kann, hatte von vornherein außer Frage gestanden, von daher ist die Bestbenotung keine große Überraschung. Sie sind der seit den Anfängen verfolgten Linie bis auf leichte Modifikationen treu geblieben, und das war ohne jeden Zweifel das Beste, was das russische Trio hätte tun können. 'Wonderful Days' erweitert ihr Repertoire um eine Handvoll Song-Juwelen und ihren Abstand zu den Genregenossen um Meilen. Dass da innerhalb eines Albums Verschnitt anfällt, sprich: unauffälligere Stücke überschattet werden, ist zwangsläufige Konsequenz. Doch auf diesem Album ist es selbst im Schatten wohlig warm, oder besser gesagt: ohnegleichen bitterkalt.